Sarah S.

Sarah S., 51 Jahre, Diplom Verpackungsingenieur, geschieden, 1 Sohn,
leitet ein Team für Forschung und Entwicklung in einem internationalen Konzern
.„Die Phantasien der Menschen über mich, sind mein größter Feind.“

53°29'0.19"N 10°12'44.30"E, 09.11.2017


Ich kenne Sarah schon so 2 ½ Jahre. Wenn wir uns gelegendlich trafen, war ich mir aber nie ganz klar darüber, wie ich sie ansprechen sollte: er oder sie? Ich habe Sarah dann einfach gefragt.


Du hast in deinem Personalausweis deinen männlichen Namen in Sarah ändern lassen?

„Ja, in Sarah Sophie.“

Was hatte das für eine Bedeutung für dich?
„Für mich passte das ganze geschlechtliche Rollenmodell unserer Gesellschaft nicht mehr. Mit meinem männlichen Namen konnte ich mich deswegen nicht mehr identifizieren.

Wie kam der Entschluss dazu?
„Ich habe es gefühlt, dass es für mich wichtig ist. Im weiblichen ist für mich die Welt mehr in Ordnung. Schon als kleines Kind. Das war einfach schon immer so. Damals habe ich mir aber darüber keinen Kopf gemacht. Ich hatte eine beste Freundin, mit der ich immer unterwegs war. Mit Jungs eher weniger.

Ich bin in einem kleinen Dorf aufgewachsen, ein Schlafdorf, das heute zu Hildesheim gehört. Da gab es noch so kleine Läden, auch einen alten Bäckerladen. Die Bäckerin mochte mich, ich liebte sie. Zu ihr bin ich immer hingegangen und habe mir meine Süßigkeiten gekauft. Zu ihr empfand ich eine große Nähe. Und das ist so eine Erfahrung von mir, die Wärme in meinem Leben kam viel von Frauen.“

Ist das nicht normal?
„Bei Jungs ist das doch meist so: Die bekommen mehr Bestätigung, als emotionale Wärme.“

Wie hast du deine Pubertät erlebt?
„Meine Pubertät war richtig scheiße!“

Warum?
„Weil die Jungs, mit denen ich in dieser Zeit zu tun hatte, alle total bescheuert waren. Ich konnte mit deren Verhalten überhaupt nichts anfangen. Klar war ich auch in einer Jungs-Clique. In der Clique waren aber nicht so die „Hähne“, die sich als Jungs beweisen mussten.
Meistens war ich als einziger Junge nachmittags eher bei den Mädchen. Habe mit denen freiwillig Handarbeitskurse mitgemacht, Batik und so. Einfach weil ich das schön fand. Ich habe mich bei denen wohl gefühlt.

Irgendwann wollten die mich dann aber auch nicht mehr dabeihaben, weil ich ja ein Junge war.“

Du hast dich damals eher als Mädchen gefühlt?
„Nee! Dass es so etwas gab wie „Junge ist eigentlich Mädchen“ war vor 40 Jahren auf dem Dorf überhaupt kein Thema für mich. Ich habe nur irgendwann etwas gemerkt, als meine Mutter mir erzählte, Freundinnen von ihr sagten, dass ich etwas Besonderes sei. Ich wäre zu ihnen eher wie eine Freundin.

Das hat mich irritiert und irgendwie traurig gemacht. Ich spürte, dass die Mädchen durch mein Verhalten verunsichert waren.“

Du hattest aber nicht das Gefühl, dass du anders warst als deine Freunde?
„Nein, aber irgendwie fühlte ich mich sehr einsam und stürzte mich sehr früh in eine Beziehung mit einem Mädchen. Da war ich so 14 Jahre alt. Diese Beziehung hielt dann auch gleich 5 Jahre. Für mich war dies Zusammensein Geborgenheit. Klar war auch Körperlichkeit dabei. Für mich war das aber eher ein emotionaler Platz, an dem ich nicht alleine war. Klingt jetzt ziemlich defizitär, aber so war das einfach.
In dieser Zeit habe ich mit Leistungssport angefangen, Leichtathletik, 400m Laufen. Die Kopfschuss-Disziplin: alles raushauen und versuchen durchzuhalten. Die 400m Disziplin ist kein Langlauf und auch kein Sprint. Da gehst du an deine Grenzen! Wenn du gewinnen willst, musst du mit den Schmerzen kämpfen und durchhalten.“

Hast du das als eine Kompensation deiner emotionalen Verunsicherung begriffen?
„Ich glaube schon, ja. Da habe ich meine Wut gelassen, die mit meiner Einsamkeit zusammenhing. Ich bin gelaufen, gelaufen, gelaufen, gelaufen …“

Wie bist du in dieser Zeit mit deinen Freunden klargekommen?
„Die akzeptierten mich, weil ich soviel Sport gemacht habe, aber die Bestätigung war ja immer leistungsbezogen. Anerkennung durch Leistung, das war für mich aber nie genung. Ich fand das immer schon furchtbar und reicht mir bis heute nicht.
In meinem früheren Leben bin ich daran komplett kaputtgegangen. Ich habe eigentlich überall Leistung gebracht, überall reingeballert, mich bis an meine physischen und psychischen Grenzen verausgabt. Nicht nur beim Sport, irgendwann auch im Job.“

In allen Bereichen hast du versucht, immer der Beste zu sein?
Ja, was nicht immer gelungen ist, natürlich. Wenn ich nicht der Beste war, habe ich eine extreme Krise bekommen. Dann fehlte mir der emotionale Halt und das hat mich dann umgehauen.“

Du konntest dich dann nicht mehr auffangen?
„Nee. Heute bedeutet mir das nichts mehr, der Beste sein zu wollen.“

Der Beste oder die Beste? Der oder die oder Mensch?
„Keine Ahnung. Ich weiß es nicht.“

Mhm, du bist jetzt 52 Jahre.
„51 Jahre!“

Ok, der Status ist aber nicht geklärt?
„Nee.“

Bewusst nicht geklärt?
„Gar nicht bewusst. Es ist eine Reise gewesen, dahin zu kommen, wo ich jetzt bin. Dass die geschlechtliche Zuordnung für mich keine Rolle mehr spielt.“

Erzählst du mir von deiner Reise?
„Ich habe meinen Zivildienst in einer Behindertentagesstätte für Jugendliche geleistet. Dort waren Einfach- Schwer- und Mehrfachbehinderte untergebracht. Die Erfahrung, mit ihnen zu arbeiten, sie zu betreuen, hat mir unheimlich viel gegeben. Die Jugendlichen waren mehr sie selber, waren ehrlicher in ihrem Verhalten, als die „normalen“ Menschen die ich kannte. Da war kein Spiel, kein Verstecken vor Gefühlen. Es entstanden tiefe Verbindungen unter uns. Die Verbindungen waren unfassbar, waren auf einer anderen Ebene, nicht auf so einer normalen gesellschaftlichen. Da war Menschlichkeit. Die Welt mit ihren Augen zu sehen, diese Erfahrung war total überwältigend für mich. Als ich von dort wegging, schenkte mir einer von ihnen ein Foto, das mich von hinten zeigte. Er hatte es, während wir mal einen Spaziergang machten, aufgenommen.
Er fotografierte keine Pose, er hat mich einfach gesehen und versucht, das mit dem Foto aus zu drücken. Mir zu zeigen, dass er mich gesehen hat.“

Meinst du Achtsamkeit?
„Ja. Ein anderer, er litt unter Muskeldystrophie, konnte den Knüffel für den E-Rolli grade noch mit seiner Hand steuern, schenkte mir aber ein selbst gemaltes Bild zum Abschied. Was für eine Anstrengung musste das für ihn gewesen sein, dieses Bild zu malen!

Du warst jetzt grade sehr emotional. Ist das die Utopie für dich, wie Menschen miteinander umgehen sollten? Nähe zu dem anderen zu bekommen, sich nicht zu verstellen? Das Pure?
„Ja. Es war und ist für mich sehr wichtig, was ich dort gelernt und erfahren habe. Dieses Sich-wahr-zeigen-und-wahr-geben!“

Im Umkehrschluss, müsste eigentlich die Gesellschaft betreut werden?
„Ja.“

Diese Erkenntnis gibt dir Stärke?
„Ja, das ist mein innerliches Futter! Das ist es, was mich antreibt, wer ich bin.

Ich habe danach in Berlin studiert. Meine Uni hatte ich nach der Stadt ausgesucht!
Berlin war so ein transformiertes Bild meiner selbst. Da war dieses eingeschlossene, dieses eingemauerte, innerhalb der Mauern die Leute versuchten, dass Beste draus zu machen.
Dort konnte ich rumexperimentieren. Ich habe früher heimlich Kleider meiner Mutter angezogen, weil ich es schön fand. In Berlin trug ich an heißen Sommertagen ein leichtes Sommerkleid, ohne mich zu Schminken oder so.“

Was für Reaktionen bekamst du von Passanten?
„Die habe ich ausgeblendet. Ich habe dort gelernt, einfach nicht mehr hin zu schauen. Das zu machen, was für mich gut war.“

Hast du dich in dieser Zeit gefunden?
In Berlin ist für mich ganz viel aufgegangen. Dort habe ich angefangen Off-Theater zu spielen, Musik zu komponieren und mit meiner weiblichen Seite den Schritt in die Öffentlichkeit zu gehen.“

Du hast dann geheiratet.
„In meiner damaligen Beziehung war Heirat schon immer das Thema, wir hatten aber nie den richtigen Zeitpunkt gefunden und dann war mein Sohn unterwegs.“

Da hast du ja die ganz klassische Rollenverteilung wieder aufgenommen.
„Nee, nicht wirklich. Meine damalige Frau wusste über meine Neigung Bescheid. Als sie mich kennenlernte, dachte sie, ich wäre schwul und war erstaunt, dass ich es nicht war. Für uns ging es nicht um Rollenverteilung, sondern eher um die Familie, die wir leben wollten.
Allerdings, als sie sich von mir trennte, hatten wir eher geschwisterliche Gefühle für einander.“

Noch einmal zu meiner ersten Frage: Warum hast du deinen Namen ändern lassen?
„Weil die Rollenidentität, damals vor neun Jahren, für mich eine große Rolle spielte. Das war ein Statement! Für mich war der Namenswechsel wichtig, auch im Sinne meiner Identität.“

Bist du ein Grenzgänger?
„Ja, ich habe den Begriff Grenzgänger nur irgendwann für mich als Grenzverwischer umbenannt. Der Grenzgänger ist immer Ich-bezogen: Er geht auf einer gesetzten Grenze, auf der nur er eine Rolle spielt. Grenzverwischer heißt für mich: Ich gehe auf einer gesetzten Grenze und ziehe einen imaginären Reisigzweig hinter mir her. Danach existiert diese Grenze nicht mehr. Für keinen!
Das ist mein alltäglicher Kampf, um den es geht. Ich bin jetzt so, wie ich bin. Ich lasse meine Weiblichkeit auch zu.

Klar, in meinem Alltag kommt immer wieder diese Frage: bist du Er oder Sie?
Dann frage ich: wer bin ich für dich? Deine Wahrnehmung ist es doch, die mich definiert!


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