Hassan_B

Hassan B., 46 Jahre, verheiratet, 4 Kinder, geboren in Bingöl, Ostanatolien (1300 km entfernt von Izmir, Richtung Iran)
„Den Meister erkennst du an der Auswahl seiner Messer, an dem Schnitt des Fleisches.“

53°33'15.53"N 10° 0'48.42"E, 03.09.2017


Hamburg, 29.08.2017

Manchmal bekomme ich, einfach so, Heißhunger auf Tahin. Eine Sesampaste, die Beduinen mit denen ich einmal gereist bin, durch Limonensaft, geriebenes Knoblauch, schwarzem Olivenwasser und Gewürzen wie Garam Masala und Chili in eine unwiderstehliche cremige Paste verwandeln die sie dann, getunkt in Fladenbrot, genießen. Sie ist schnell zubreitet, nimmt einem das Hungergefühl, ohne müde zu machen.


Es war ein sehr heißer Tag in Hamburg und ich durchstreifte auf der Suche nach dieser Sesampaste orientalische Läden am Steindamm. In einem großen Markt fand ich die Gläser Tahin. Allerdings war das Angebot der unterschiedlichsten Hersteller so groß, dass ich unsicher war, welches Produkt ich nehmen sollte. Ich fragte einen der vielen Angestellten im Markt, der mir durch freundliches Schulterzucken andeutete, mich nicht zu verstehen. Er zeigte auf einen Mann in Richtung Fleischertresen, der ruhig und aufmerksam Käufer und Verkäufer beobachtete, gelegentlich ein Stück Fleisch gekonnt mit dem Messer zerteilte und es dem Verkäufer überreichte. Ich fragte ihn, welches dieser vielen Tahin ich nehmen sollte, welches am schmackhaftesten war. Er erkundigte sich im guten Deutsch, was ich damit vor hätte und ich erklärte ihm, wie ich es zubreiten wollte. Er war auf einmal mehr an meinen Erfahrungen mit den Beduinen interessiert, an meinen Reisen und fragte mich, ob ich schon da oder dort gewesen wäre. Zuletzt schenkte er mir 2 Steaks und zeigte auf ein Glas Tahin von der Firma Koska, das seiner Meinung nach das reinste sei.


Ich kam jetzt öfters in den Markt, auch deswegen. um gutes Fleisch zu kaufen. Und irgendwann fragte ich Hassan, der Mann hinter der Fleischertheke, ob er mir ein bisschen aus seinem Leben erzählen wolle und wir verabredeten uns in einem Cafe.

Hassan:
„Als ich 2 Jahre alt wurde, zog meine Familie von Bingöl nach Turgutlu. Von einer kleinen Stadt in Ostanatolien in die große Stadt. Turgutlu gehört zu Izmir. Izmir hat 3 1/2 Millionen Einwohner, eine Hafenstadt so wie Hamburg, bisschen größer. Viele meiner Landsleute aus Ostanatolien, die später nach Hamburg kamen, haben regelrecht einen Kulturschock bekommen. Alles so groß, alles so modern. Ich kannte ja Izmir und habe mich in Hamburg sofort heimisch gefühlt. In Izmir leben Armenier, Juden, Kurden, und Türken nebeneinander, Multikulti, wie in Hamburg.


Ich komme aus einer Familie von Schlachtern und Geschäftsleuten, Mein Opa, mein Vater waren Schlachter, noch früher waren sie Vieh Bauern. Sie besaßen große Herden Rinder und Schafe, die sie auf eigenen Weiden im „Land der Tausend Seen“ so die Übersetzung von Bin göl, züchteten.


Meine Vorfahren waren wohlhabend, sie waren eher Geschäftsleute als Schlachter. Ich glaube, daher denke ich auch ein bisschen anders, geschäftlicher, als die meisten Leute. Mein Vater und mein Onkel lebten mit ihren Familien 42 Jahre in einem Haus, auch in Izmir, bis wir Kinder groß waren. Vater entschied sich dann, mit unserer Familie auszuziehen und baute ein eigenes Haus. Abends waren wir aber immer wieder alle zusammen und gingen nur zum Schlafen nach Hause.


Für uns ist die Familie das wichtigste im Leben.


Als mein Vater mit uns von Turgutlu dann direkt nach Izmir zog, arbeitete er noch für andere Bauern auf dem Land. Er war sehr groß und kräftig. Er mähte ein Feld an einem Tag, wofür die anderen 4 Tage brauchten. So hat er sehr gut verdient, aber auch sehr viel gearbeitet. Mit dem gesparten Geld kaufte er Tiere in Ostanatolien, er kannte ja die Bauern dort und verkaufte sie im Westen der Türkei, Damals gab es wenig Tierzucht im Westen und die Preise für Fleisch waren dort hoch, so dass er richtig gut mit dem Handel verdiente. Aber wie das so in der Türkei ist, drängten dann der Friseur, der Schneider, der Urmacher aus unserer Stadt auch in dieses Geschäft, bis es sich für meinen Vater nicht mehr rechnete.


Ich war damals 9 Jahre alt, als mein Vater dann eine Schlachterei übernahm, in der ich dann auch anfing zu arbeiten. Morgens in die Schule, nachmittags im Laden. Weil ich noch so klein war, bekam ich einen Tritthocker, so dass ich über die Theke schauen konnte. Meine Aufgabe war, das Zerlegen der Fleischteile. Kunden sahen mich und waren erstaunt: „Oh, der wird noch einmal ein Meister“ und gaben mir besonders viel Trinkgeld. Ich fühlte mich wie ein König: alles was ich haben wollte, bekam ich, weil ich ja arbeitete. Als ich 14 Jahre alt war, musste ich den Laden 3 Monate alleine führen, da mein Vater wegen eines Rückenleidens nicht mehr stehen konnte. Mein Onkel besorgte die Tiere, ich zerlegte und verkaufte sie. Natürlich habe ich auch Fehler gemacht, aber meine Kunden sahen darüber hinweg. Im Gegenteil, sie ermutigten mich und ich war wirklich stolz, dass ich ohne Verlust die Schlachterei am Laufen hielt. Nach diesen 3 Monaten habe ich mich entschieden, mit der Schule aufzuhören und ganz in der Schlachterei zu arbeiten. Ich hatte meine Mittlere Reife, war schon auf dem Gymnasium eingeschult, allerdings war mein Vater wirklich so krank geworden, dass er den Laden nicht mehr alleine führen konnte. Ich als ältester Sohn musste und wollte Geld für die Familie verdienen. Da wir in der Türkei keinen Sozialstaat haben, ist es eben so: wer nicht arbeitet, hat kein Geld. Mit meinen Brüdern habe ich den Laden dann weitergeführt, bis ich mit 20 Jahren für 1 1/2 Jahre zum Militärdienst musste. Dort musste ich niemanden töten und ich war auch nicht im Krieg. Ich habe aber sehr viel über mich gelernt.Nach dem Militär habe ich mit meinen Brüdern die Schlachterei weiter geführt. Wir verdienten gut und was wir sparen konnten, gaben wir unserem Vater, der das Geld anlegte. Er war unser Schatzmeister.


1994 kam die große Wirtschaftskrise in der Türkei. Ich war grade frisch verheiratet, konnte den Laden nicht mehr halten und ich fühlte mich schuldig. Wer konnte, kaufte Gold. Viele konnten sich kein Fleisch mehr leisten, selbst Immobilien verloren an Wert. Ich hatte das Gefühl, ich als ältester Sohn hatte versagt. Mein Stolz war gebrochen. Mein Vater unterstützte mich: „Das Leben geht nicht immer hoch, es geht auch nicht immer runter“ sagte er mir und ohne Vorwurf. „Du musst eine Lösung finden: entweder du kämpfst oder du musst mit unserem Vermögen haften“ Ich hatte keine Kraft mehr zu kämpfen, weil ich nicht absehen konnte, wie lange diese Krise andauern würde. Ich verkaufte den Laden unter Wert, um die nötigsten Schulden begleichen zu können. Wir zogen dann zurück nach Turgutlu, wo wir als Familie einen kleinen Resthof besaßen. Wir kauften 30 Kühe und produzierten Milch. Meine Mutter brachte uns bei, wie man Butter, Käse und Jogurt macht. Wir hatten 200 bis 300 Liter Milch an einem Tag. Die Butter, den Käse, den Jogurt verkauften wir und haben damit unser Lebensunterhalt verdient. Wenn du die Milch selber produzierst, kannst du mit den Produkten daraus Geld verdienen. Unser Hof hatte mit der Zeit einen guten Ruf und so haben wir gut verkauft.


Jahre später waren wir ganz schuldenfrei und haben wieder eine neue Schlachterei aufgemacht. Ich wollte dann eigentlich nach Istanbul gehen, weil der neue Laden nicht für uns alle genug Geld abwarf. Mein Bekannter in Istanbul sagte mir, wenn du Schlachter bist, gehe nach Deutschland, die suchen Schlachter. Vorher hatten meine Brüder und ich eine Handels GmbH gegründet und da 1997 der türkische Staat die Grenzen zum Import von Tieren öffnete, viele Viehbauern in der Türkei waren pleite, kaufte ich Tiere in Belgien, Frankreich und in Deutschland für unseren Laden und den Schlachthof in unserer Stadt. 1999 entschied ich mich dann nach Deutschland zu gehen, um direkt von dort aus mit Tieren zu handeln.


Dann kam der BSE Skandal und ich verlor alles Geld, das ich in diesen Handel gesteckt hatte. Das einzige, was mir blieb, war mich hier in Deutschland als Schlachter selbstständig zu machen, um das verlorene Geld wieder zu verdienen. Dass wurde mir aber seitens der Behörden nicht erlaubt. Ich bekam erst einmal nur eine Aufenthaltserlaubnis, die es mir ermöglichte, als Angestellter 2 1/2 Jahre in Bad Bramstedt in einem Schlachthof zu arbeiten. Als der verkauft wurde und Pleite ging wollte ich mich selbständig machen und in Deutschland einen Laden aufmachen. Der zuständige Beamte fragte mich aus seiner Erfahrung mit Türkischen Einwanderern heraus: Imbiss oder Cafe? Ich erklärte Ihm: beides nicht, ich will Fleisch verkaufen.


Die Genehmigung für einen Laden habe ich dann für die Stadt Kiel erhalten. Den Laden wollte ich in der Innenstadt aufmachen, nicht im türkischen Viertel „Kiel Gaarden“. Mein Gedanke war, dass ich Kunden haben wollte, Türken, Deutsche, Araber, die Wert auf gute Ware legten. Alle schüttelten Kopf und sie hatten auch Recht, ich machte in den ersten 7 Monaten 24.000 € Verlust. Ich weiß noch, damals dachte ich an die Worte meines Vaters: Der erste Schnee bleibt nicht liegen, es braucht Zeit. 7 Monate später habe ich den ersten Gewinn gemacht. In meinem Leben als Schlachter hatte ich bei 7 verschiedenen Meistern gelernt und langsam merkten die Leute in Kiel, dass ich Qualität liefere.


Irgendwann kam ein Mann von der Behörde vorbei und fragte nach meinem Meisterbrief (hatte ich nicht) nach meinem Gesellenbrief (hatte ich nicht) und er meinte, ich müsste mir etwas einfallen lassen, sonst müsste er den Laden zu machen. Ich wollte einen deutschen Meister einstellen, aber keiner wollte die Verantwortung übernehmen. Ich habe dann eine Schlachterei in Rendsburg gefunden, mit der ich zusammen gearbeitet habe und so praktisch einen Meister hatte. Das habe ich 2 Jahre gemacht, bis 2003 in Hamburg ein Kursus gegeben wurde, den, wenn man ihn bestand, die Hackfleich – Verordnung erfüllt wurde und man somit einen Schlachterladen führen durfte. Ich bin 7 Monate jede Woche 2 mal von Kiel nach Hamburg gefahren, um diesen Schein zu bekomen. Etwas, was ich damals nicht wusste war, dass der Beste und der 2 Beste in diesem Kursus die Möglichkeit bekam, sich für den Meisterbrief an der Schule einschreiben zu können. Ich schloss den Kurs als Bester ab. Danach stand ich morgens um 3 Uhr früh auf, machte meine Schularbeiten, ging vormittags zur Schule und lernte nach Ladenschluss. Ich konnte kaum Deutsch schreiben, hatte andere Vorstellungen von der Schlachterei, wie meine deutschen Kollegen. Das musste ich auch alles neu lernen.


2008 bestand ich die Prüfung und wurde ein deutscher Schlachtermeister. Und ich hatte Erfolg mit meinem Laden in Kiel. Es war ein kleiner, alteingesessener Laden, 50 qm, sechs Kunden konnten darin gleichzeitig bedient werden. Bei mir standen dann aber eine Schlange von 15 Menschen vor dem Laden, die geduldig warteten, um bei mir einkaufen zu können. Um diese Qualität als Schlachter zu erreichen, bin ich jeden Morgen wieder um 3 Uhr aufgestanden, nach Husum zu meinen Fleischlieferanten gefahren und um 8.00 Uhr lag die Ware dann frisch hinter meiner Theke. Ich bezahlte 20-30 Cent mehr pro Kilo an meine Lieferanten, habe aber deswegen das beste Fleisch bekommen.


Ich bin immer der Erste, niemals der Zweite.


In dieser Zeit habe ich noch weitere Läden aufgemacht. 3 Jahre später, 2005 kaufte ich das Haus, in dem sich der Laden befand. Gekauft, ohne die Bank! Es ist ein Eckgebäude und besteht eigentlich aus 4 Läden, die oberen Stockwerke waren im 2. Weltkrieg zerstört worden. Ich habe dem Eigentümer, ein ehemaliger Schlachter, angeboten eine Anzahlung zu machen und dann die Restschuld durch Mietzahlung zu begleichen. Er liebte mich wie einen Sohn und hat eingeschlagen. Er sah mich als seinen Nachfolger, weil seine Kinder nichts mit Schlachterei zu tu haben wollten. Wir sind zum Notar gegangen, der ungläubig 3 Mal nachfragte, ob er das wirklich machen wolle. „Hör auf, ich vertraue Hassan“ entgegnete er dem Notar. Ich habe 8 Jahre das Haus abbezahlt, ohne Versäumnisse. Jetzt lebe ich von den Mieteinnahmen. Im Januar reißen wir das Haus ab und bauen ein Wohnhaus mit 2 Penthouse Wohnungen oben drauf und vier Läden unten. Allerdings keine Schlachterei mehr. Ich kann nicht mehr als Schlachter arbeiten. Ich war 8 Monate krank, Berufskrankheit. 2 Mal an der Bandscheibe und 2 Mal an der Wirbelsäule operiert. Ich hatte noch einen Schlachthof gekauft, den ich aber verpachten musste, da ich gesundheitlich zu angeschlagen war.


2012 habe ich ein Burnout bekommen. Wenn du jeden Tag 20 Stunden arbeitest, kannst du irgendwann einfach nicht mehr. Der Körper, die Seele geht daran kaputt. Meine Kinder waren in dieser Zeit im Teenager Alter und auch grade nicht sehr einfach. 2013 habe ich alle Geschäfte verpachtet. Mit den Mieteinnahmen verdiene ich genug. Klar, wenn ich arbeite, verdiene ich mehr, aber der Preis ist zu hoch, ich schränke mich lieber etwas ein, als wieder krank zu werden. Ich habe dann einen kleinen Bauernhof in der Nähe von Kiel gemietet und bin dort mit meiner Familie hingezogen. Einfach bisschen Ruhe haben.


Danach sind wir nach Izmir umgezogen. Meine beiden Söhne sind hier geblieben. 2 Jahre bin ich dann nur gereist. Mit meiner Frau bin ich als Pilger nach Mekka gefahren. Um mein Burnout zu überwinden hatte ich mich zurückgezogen und karitativ gearbeitet. 2016 bin ich zurück nach Hamburg gekommen um meinem ältesten Sohn bei der Meisterprüfung zu helfen. Er hat seine Lehre als Bester beendet und fing dann an, seinen Meister zu machen. Die Schule ist schwer. Ich habe ihm gesagt, niemals schummeln, du verlierst dadurch deinen Respekt dir gegenüber. Wenn du Meister geworden bist, kannst du Stolz auf dich sein!


Ich bin jetzt der Alte, „Tradition“. Meine beiden Söhne arbeiten als Schlachter, mein ältester hat seinen deutschen Meisterbrief gemacht, mein Zweitältester ist dabei.


Und ich möchte jetzt Reisen.


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