Gülşen I.

Gülşen I., 29 Jahre, ledig, Barkeeperin, Yoga- und Qigong-Lehrerin, Hamburg

53°33'27.03"N, 9°58'30.88"E, 31.10.2014


„Warum ich mir die Haare abschneiden ließ?“


Gülşen lächelt und schließt die Augen. „Ich erzähle dir eine Geschichte. Meine Geschichte. Vielleicht verstehst du es dann.“

„Ich bin in einem kleinen Dorf, nahe der schweizerischen Grenze geboren. Mein Vater und meine Mutter waren unter den ersten türkischen Einwanderern, die in den 1960iger Jahren nach Deutschland kamen. Ich bin das jüngste von insgesamt 5 Mädchen in unserer Familie. Papas Liebling. Unsere Eltern lebten immer etwas abgegrenzt zu den deutschen Familien im Dorf. Wir lebten nicht streng religiös, sind aber durch die alevitische Glaubensrichtung unserer Eltern geprägt worden. Ich hatte aber einen ganz normalen Kontakt zu den Kindern im Dorf. Bis mich eine Nachbarin, die ich sehr mochte und die eigentlich auch so etwas wie eine Bezugsperson für mich geworden war, missbrauchte. Nicht einmal, sondern über mehrere Jahre. Bis zu meinem 12 Lebensjahr. Bis wir aus dem Dorf in die Stadt zogen. Meine Eltern und Geschwister haben von dem Missbrauch nichts mitbekommen. Das, was mit mir geschehen war, konnte ich überhaupt nicht einordnen. Ich war nur zutiefst verunsichert und verletzt, wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte und fing an, mich zurückzuziehen.

Als ich erfuhr, dass die Nachbarin, die mich missbraucht hatte, an Krebs gestorben war, ich war da 14 Jahre alt, löste das etwas in mir aus, das ich nicht beschreiben konnte. Ich war sehr traurig, sehr wütend und schämte mich. Ich fühlte mich schmutzig, betrogen und benutzt. Ich verlor meinen Halt, mein Selbstwertgefühl. Ich wurde depressiv, habe sehr viel Alkohol getrunken, kaum geschlafen, Schlaftabletten und Neuroleptika genommen und begann, wahnsinnig zuzunehmen. Mein einziger Halt in dieser Zeit war die Schule. Ich machte mein Abi und reiste danach 2 Monate alleine nach Thailand. Anschliessend mit einer Freundin nach Indien und Nepal und dachte, so wird alles wieder gut.


Als ich nach Deutschland zurückkam, begann ich ein Studium in Bonn. Asienwissenschaften. Nach 3 Semestern schmiss ich das Studium, weil es mir immer noch sehr dreckig ging. Mein ICH war nicht mehr da.
Über eine Empfehlung eines Freundes besuchte ich den Yoga Ashram Westerwald. Dort blieb ich 1 ½ Jahre und bekam die Möglichkeit, selber die Techniken des Yogas zu erlernen. Der Ashram, das Yoga, die Meditation haben mir gut getan. Seitdem fühle ich, ich bin auf dem richtigen Weg. Um mich zu einer Qigong-Lehrerin ausbilden zu lassen, bin ich dann nach Hamburg gezogen. Seitdem mache ich ganz große Sprünge, wieder hin zu mir. Ich nehme ganz viel und neu wahr, fühle intensiv die Kraft, die in mir ist. Erfahre durch Qigong, ich muss nicht alles rational auseinandernehmen, um Heilung zu bekommen. Ich habe das Gefühl, ich lebe wieder und habe jetzt eine große Klarheit in mir. Das Erlebte zerbricht mich nicht mehr wie früher, ich nehme es an. Nach 4 Jahren Ausbildung, mache ich im Frühjahr meine Abschlussprüfung in Qigong. Vielleicht studiere ich dann wieder Asienwissenschaften.
Ach ja, warum ich mir die Haare kurz schneiden ließ? Ich wachse jetzt, mit meinen Haaren, in ein neues Leben.“


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